Geschichte

Die Geschichte der Familie Alessandri

Alessandri, ein Name, welcher nicht unbedingt ins Entlebuch gehört. Ein Name, welcher auch nicht unbedingt zu Ländlermusik passt. Wie ist es dazu gekommen, dass dieser Name so häufig, vor allem im Entlebuch, zu hören ist?

Schon in früheren Zeiten mussten viele Leute, um überleben zu können, Ihren Wohnort und ihre Heimat verlassen. Man kannte die Sozialeinrichtungen des Staates, wie wir sie heute haben noch nicht. Nur durch hartes Arbeiten gab es Geld für Milch, Brot und Kleider.

Heute ist das Wort „Integration“ im Zusammenhang mit Ausländern in aller Munde. Man versteht damit, dass sich fremde Leute in ihrer neuen Heimat anpassen müssen und dass die Einheimischen den Fremden auch die Möglichkeit des Anpassens geben. Genau mit diesem Problem musste sich unser Grossvater, Ur- oder Ururgrossvater Antonio Giuseppe Alessandri auseinander setzen, als er 1880 in die Schweiz einreiste. Es war nicht Abenteuerlust und es war auch keine gewöhnliche Reise, die der 24-jährige Antonio Giuseppe damals unternahm. Grosse Armut und Arbeitslosigkeit in der heutigen Provinz Trento und speziell auch in seiner Heimatgemeinde Preghena, zwangen ihn zu diesem Unternehmen.

Seinen ersten Arbeitsplatz fand er bei einem Zürcher Baumeister, der ihn auf Baustellen im Zuger- und Schwyzergebiet einsetzte. Im Jahre 1890 zügelte er nach Marbach und wenig später nach Escholzmatt. In den Gemeindeakten von Escholzmatt finden wir einen Eintrag vom 24. Januar 1897, welcher das Deponieren seiner Schriften bestätigt. Er wohnte damals auf der Liegenschaft „Wiggenmätteli“.

Zwei Heiraten und ein Wort zur Glaserei

Am 29. August 1894 heiratete Antonio Giuseppe Alessandri in Marbach die 26-jährige Maria Stadelmann, gebürtig von Escholzmatt. Maria Stadelmann war Landarbeiterin und Glashändlerin. Sie wohnte bei ihrer Mutter auf Rothus in Marbach. Interessant ist noch ein Hinweis zum Beruf Glashändlerin. In dieser Zeit ging die Produktion von Glas im Amt Entlebuch langsam ihrem Ende entgegen. Seit 1724 wurde an verschiedenen Orten im Entlebuch Glas hergestellt. Die bekannteste Glasmacherfamilie Siegwart, zog nach Hergiswil an den Vierwaldstättersee, wo noch heute Glas produziert wird. Heute ist Flühli-Glas unter Sammlern und Kennern schweizweit und darüber hinaus ein Begriff.

Maria Stadelmann hatte also wie damals viele ihrer Landsleute eine Zweitbeschäftigung in der Glasindustrie. Sie verkaufte Glas bis nach Bern und Interlaken und erwarb sich damit einen Teil ihres Verdienstes. Ein Jahr nach der Heirat mit Antonio Giuseppe, verstarb sie. Der Sterbegrund ist uns nicht bekannt. Wir finden in den Gemeindeakten von Escholzmatt lediglich den Hinweis, dass die Ehe kinderlos geblieben war.

Am 21. November 1896, also ein Jahr nach dem Tod seiner ersten Frau, heiratete Giuseppe, wie er fortan genannt wurde, die 25-jährige Regina Rogenmoser von Oberägeri. Ihr Geburtsdatum ist der 20. Juli 1871, was im Taufbuch von Oberägeri nachzulesen ist. Regina brachte ihren dreijährigen Sohn Josef Rogenmoser mit in die Ehe. Das Kind wurde vollständig in die junge Familie integriert. Die Leute von damals nannten ihn „Alexander-Söppi“. Die junge Alessandri-Familie wohnte noch kurze Zeit in Escholzmatt. Giuseppe hatte Arbeit beim Baumeister Zihlmann, wo er vor allem im Strassenbau tätig war.

Zügeln und immer wieder zügeln

Am 28. November 1898 meldete sich die Familie Alessandri in Escholzmatt ab. Sie zügelte auf die Liegenschaft Hackenrüti bei Wolhusen. Auf der Hackenrüti kamen die beiden Kinder Marie, 1899, und Anna-Regina, 1901, zur Welt. Vater Giuseppe arbeitete zu dieser Zeit bei der Gemeinde Ruswil als Strassenbau-Aufseher. Im Jahre 1901 oder 1902 zügelte die Familie nach Flühli, ins Länghölzli und 1903 in den Steinibach, ebenfalls in der Gemeinde Flühli.

1911 zogen die Alessandri’s mit Sack und Pack nach Moutathal. Dort fand Vater Giuseppe Arbeit im Kraftwerkbau. Nach drei Jahren kehrte die Familie wieder zurück ins Entlebuch und diesmal nach Schüpfheim. Sie wohnten auf der Liegenschaft Staufen. Zu dieser Zeit wurde die Flühli-Strasse neu durch die Lammschlucht gebaut. Die alte Strasse führte über Staufen-Kärdeli-Nussberg nach Flühli. Vater Alessandri wurde als Vorarbeiter angestellt und die älteren Buben dieser Grossfamilie, durften ihrem Vater beim Strassenbau helfen und dabei ihren Kinderlohn in die gemeinsame Haushaltkasse abgeben. Kinderarbeit war zu dieser Zeit bei uns an der Tagesordnung.

Fester Wohnsitz auf Oberholzgut, Schüpfheim

Erneut wurde gezügelt. Man verliess die Liegenschaft Staufen und zog ins Zugiport, Gemeinde Schüpfheim ein. Hier wohnten die Alessandri für kurze Zeit, bis sie dann ihre Habe ein letztes Mal verpackten und ins Oberholzgut, Schüpfheim zogen. Hier fand die Familie ihr Eigenheim und einen dauerhaften Wohnsitz.

Vater Giuseppe konnte den Kauf der Liegenschaft Oberholzgut leider nicht mehr erleben. Mit gut 63 Jahren starb er am 30. Mai 1919 an den Folgen des schweren Arbeitens auf den vielen Baustellen. Fortan war nun die Mutter Regina Alessandri-Rogenmoser mit ihrer Grossfamilie auf sich allein gestellt. Je nach Alter und Möglichkeit halfen die Kinder für den Erhalt der Familie mit. Zusammenhalt für- und miteinander, sowie Eigenverantwortung waren da keine Fremdwörter. Wenn man diese Situation in die heutige Zeit überträgt, wäre das kaum mehr vorstellbar, ohne fremde Hilfe über die Runde zu kommen. Da würde gestützt und geholfen von vielen Seiten und unser gut ausgebautes Sozialwesen käme wohl zünftig zum Zug.

Die Schulorte der Alessandri-Kinder

Mit dem vielen Zügeln holten sich die dreizehn Kinder ihre Grundausbildung an verschiedenen Dorf- und Aussenschulen. So drückten sie an den Aussenschulen von Sandboden, Flühli und Klusen, Schüpfheim und an den Dorfschulen von Muotathal und Schüpfheim die Schulbank. Obwohl bei einigen bestimmt auch der Wunsch nach einer höheren Ausbildung vorhanden war, war das für die Alessandri’s kein Thema. Nach der Grundschule und oft auch schon während den Schulferien hiess es, arbeiten und sein Brot selber verdienen.

Musik und Gesang in der Familie Alessandri-Rogenmoser

Fröhlich und gemütlich sein wurde nach unserem dafürhalten den Alessandri-Kindern in die Wiege gelegt. Als weder Handorgel, Klarinette oder Bassgeige zur Verfügung standen, denn alles kostete viel Geld, wurde in der Familie gesungen.
Ich denke dabei an die vielen Besuche von Holzgut-Grosi bei unseren Eltern in Flühli. Wenn Sie bei uns war hatte sie ständig eine Strickarbeit zur Hand und gleichzeitig mit dem Wachsen des neuen Sockens oder der Strümpfe sang sie ein lustiges Lied nach dem andern oder erzählte witzige Sprüche. Aber auch meine Mutter, die Frieda Wicki-Alessandri sang bis kurz vor ihrem Tod, mit 90 Jahren noch ab und zu ein „Lumpenliedchen“. Bei ihren anderen Geschwistern wird das wohl nicht anders gewesen sein.

Mit der Zeit aber griffen die Alessandri-Buben zu den Instrumenten. Alois, Franz und Hans begannen in den Zwanzigerjahren mit Musizieren. Von Musikschule und Musiklehrern war keine Rede. Sie hörten vielleicht andern Musikanten zu, bekamen da und dort gute Ratschläge und übten für sich selbst, bis sie Titel für Titel zusammen spielen konnten. Als Bassgeiger half ihnen zu dieser Zeit ein Obwaldner, vermutlich aus Giswil, mit dem Namen Halter. Er war bei Wicki Richard in der Chratzern als Knecht angestellt. Alois gab dann aber bald das Hondorgelspiel auf und an seine Stelle trat sein Bruder Ernst als zweiter Bläser dazu – er war noch Schüler als er bei Auftritten mithalf – und nach langen „Musiknächten“ überfiel ihn in der Schulbank ab und zu der Schlaf. Mit der Zeit erlernte Bruder Toni das Bassgeigenspiel, selbstverständlich auch autodidaktisch. Und so waren die Alessandris eine Kapelle bestehend aus Handorgel mit Franz, Klarinetten mit Hans und Ernst und Bassgeige mit Toni. Oftmals war der Klavierspieler Franz Zemp von Schüpfheim mit dabei.

Der Musik fröhnten die Alessandri-Buben ,(so wurden sie oft genannt), aus Freude und aus Leidenschaft. Das Geldverdienen hatte am Anfang einen minimalen Stellenwert. Mit der Zeit aber erwarben sich die Musikanten in weiten Kreisen einen guten Namen und ihr Spiel brachte auch gutes Geld in die Familienkasse. Selbstverständlich übten alle als Hauptbeschäftigung den Beruf als Maurer oder Landwirt oder den Doppelberuf Maurer und Landwirt aus.

Die Alessandris spielten regelmässig an Kilbi-, Fasnachts- und Schwinganlässen, aber auch am kalten Markt, in Schüpfheim, Rengg/Entlebuch, Flühli, Sörenberg, oder im nahen Emmental, bis Langnau, Trub und Schangnau, sowie im Luzerner-Unterland, im Gäu, wie wir Entlebucher sagen, in Ob- und Nidwalden, vor allem in Engelberg. Die Krönung ihrer Tätigkeit geschah am Schweizerischen Ländlermusik-Wettbewerb, im April 1953. Radio Bern hatte 20 Kapellen aus der ganzen Schweiz zu einem Wettspiel an die Schwarztorstrasse nach Bern eingeladen. Die Sendung wurde über den Mittelwellensender Beromünster an einem Sonntag-Nachmittag ausgestrahlt. Die Kapellen wurden nicht mit Namen, sondern nur mit einer Nummer am Radio angesagt. Das Publikum konnte mittels Einsenden einer Postkarte ihren Favoriten mit der entsprechenden Nummer melden. Die Alessandris gewannen diesen Wettbewerb mit grossem Vorsprung. Ich erinnere mich noch als Sekundarschüler wie wir zuhause die Ohren spitzten. Kaum hörte meine Mutter die ersten Takte von Nummer 11 – nahm sie einen Sprung vom Stubenofen – und sagte: „ Das si üsi Buebe!“. Ja es waren Sie, und sie spielten perfekt und meisterhaft.

Hans der Klarinettist hatte auch die Begabung Musikstücke zu komponieren. Einige wenige Titel sind noch auf alten Gramophon-Platten festgehalten. Sehr gerne baute er auch kleine Gesangs- oder Jodlerteile in seine Kompositionen ein, was wiederum auf die gesangliche Begabung hinweist.

In der Mitte der Fünfziger-Jahre, wurde die Tanzkapelle Alessandri aufgelöst. Unzählige Auftritte an vielen Orten in der Zentralschweiz und im Emmental, sind Erinnerung und Beweis für ihre Beliebtheit und für ihr Können.

Es gibt aber da noch viele, die in irgend einer Art musikalisch und gesanglich in die Fusstapfen ihrer Vorfahren eingestiegen sind, oder die durch Heirat in den grossen Kreis der Alessandri eingetreten sind. Hier einige, die es verdienen, mit Namen genannt zu werden.

Da ist Alois Alessandri-Hofstetter, der Sohn von Alois Alessandri-Stalder. Schon sehr früh erlernte er das Handorgelspiel und spielte in ganz verschiedenen Kapellen mit. Dazu trat er jung in den Jodlerklub Schüpfheim ein und stellte über lange Zeit seine tragende Stimme dem Klub zur Verfügung. Zu allem war Alois ein vorzüglicher Unterhalter. Er war Conferencier bei unzähligen Festen, Hochzeiten und anderen Anlässen. Seine Auftritte spicke er mit Witzen, Musik, Jodel und Gesang und der Erfolg war ihm immer und immer wieder sicher gestellt. Auch an unzähligen Jodlerfesten begleitete er Jodler und Jodlerinnen an ihren Wettvorträgen, sein feinfühliges Begleitspiel war sehr gefragt.

Da denke ich an die Schmid-Buben, die Söhne von Erwin und Anna Schmid-Alessandri, Schüpfheim. Die Kapelle Gebrüder Schmid ist in der ganzen Schweiz als hochkarätige Formation für Volksmusik im Innerschweizerstil bekannt. Sie haben das Erbe ihrer Vorgänger, ihres Grossvaters und ihrer Grossonkel würdig angetreten und geben weit herum Zeugnis davon. Ein Muster ihres grossen Könnens finden sie, liebe Besucherinnen und Besucher dieser Website, auf der CD „Alessandri in Wort und Ton“, wo übrigens noch viele andere Müsterchen über das Musizieren und Singen der Alessandris gesammelt sind.

Wer kennt Vreni Alessandri-Stadelmann nicht. Oder wer kennt die beiden Geschwister Vreni und Franz Stadelmann nicht! Die Beiden stehen seit Jahrzehnten zuoberst auf der Hitliste für volkstümlichen Gesang im Unterhaltungssektor. Ihre selbst komponierten Jodellieder sind von vielen Interpreten und Klubs tausendfach vorgetragen worden und auf vielen eigenen und fremden Tonträgern ist ihr Liedgut und die Jodelgesänge festgehalten.

Es ist auch fast klar, dass die drei Kinder von Söppi und Vreni Alessandri-Stadelmann das musikalische Erbgut mitbekommen haben. Alle drei sind gute Säger, vor allem in ihrer Kinder- und Jugendzeit haben sie mit viel Eifer ihrer Mutter nachgeahmt. Auch dazu sind schöne Müsterchen auf der CD „Alessandri in Wort und Ton“ festgehalten.

So gäbe es noch vieles zu berichten über Musik und Gesang im Zusammenhang mit der Familie Alessandri. Onkel Toni der Bassgeiger erzählte mir kurz vor seinem Tod auch über die Fussmärsche und Velofahrten von Schüpfheim bis ins Gäu oder ins Emmental zu ihren Auftritten, Kiesstrassen, Handorgel und Bassgeige am Rücken, das Velo als Transportmittel. Bestimmt könnte man ein Buch darüber schreiben. Immerhin ist in der vorliegenden Erzählung vieles enthalten, dass uns als Nachfahren aus dem Stamm der Alessandri stolz, zufrieden und glücklich machen darf.